Interview:„Die Strahlkraft von "Made in Germany" ist nach meiner Erfahrung ungebrochen“

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Fotocredit: Initiativkreis Ruhr / Anna Spindelndreier

Interview

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Dr. Dirk Stenkamp

Vorsitzender des Vorstands der TÜV NORD GROUP

Weit mehr als 100 Jahre ist der TÜV NORD im Ruhrgebiet zu Hause und hat in Essen einen seiner größten Standorte. Zur Entwicklung und Bedeutung des Essener Campus sprachen wir mit Dr. Dirk Stenkamp, Vorsitzender des Vorstands der TÜV NORD GROUP. Eines der zentralen Themen an diesem Standort ist die Mobilität der Zukunft. Wie sich die Anforderungen an den Prüfdienstleister über die Jahre verändert haben und warum eine Überprüfung der Sicherheitssysteme alle zwei Jahre nicht mehr ausreicht, erzählt uns Dr. Stenkamp im Interview.

Herr Dr. Stenkamp, TÜV NORD blickt auf eine über 150-jährige Geschichte zurück. In Essen ist Ihr Unternehmen seit 1900 ebenfalls weit mehr als ein Jahrhundert zu Hause und hat dort einen der größten und vielfältigsten Standorte. Warum ist Essen im Herzen des Ruhrgebiets ein wichtiger Standort für den weltweit agierenden TÜV NORD?

Unser Unternehmen ist in vielen Städten des Ruhrgebiets fest verwurzelt, in Essen treffen wir besonders viele unserer Kunden: Weltweit tätige Energiekonzerne ebenso wie mittelständische Unternehmen und Behörden. Gleichzeitig arbeiten bei uns in Essen hervorragende Expertinnen und Experten, die Unternehmen dabei unterstützen, ihre Nachhaltigkeit signifikant zu verbessern, die Energie- und Mobilitätswende voranzubringen oder auf Künstlicher Intelligenz basierende Systeme sicher und zuverlässig zu betreiben. Deswegen investieren wir an unserem TÜV NORD CAMPUS in Essen mit jetzt 1.500 Beschäftigten zielgerichtet in Zukunftstechnologien. Das größte Hardware-Testlabor für Cybersicherheit Europas ist dafür nur ein Beispiel.

Nach sorgfältiger Prüfung heißt es heute also mehr denn je: „Made in Germany“! Ist die weltweite Relevanz dieses zertifizierten Gütesiegels auch heutzutage noch ungebrochen?

Wir sind als TÜV NORD Konzern in mehr als 100 Ländern unterwegs, die Strahlkraft von "Made in Germany" ist nach meiner Erfahrung ungebrochen. Das Label steht für hochwertige Verarbeitung, Zuverlässigkeit und herausragende Qualität. Wir müssen uns aber mehr dafür starkmachen, dass deutsche und europäische Normen und Qualitätsstandards auf den weltweiten Märkten weiterhin relevant bleiben, zum Beispiel in Branchen der Hochtechnologie oder bei der Energiewende. Dafür setzen wir uns aktiv ein.

Eines der zentralen Themen am Essener Standort ist die Mobilität der Zukunft. Im Institut für Fahrzeugtechnik und Mobilität prüfen Sie seit fast 20 Jahren für Hersteller und Zulieferer der Automobilindustrie. Was macht dieses Institut über das Ruhrgebiet hinaus so besonders und welche Bereiche umfasst es mittlerweile?

Wir sind mit dem IFM sogar seit über 60 Jahren im Ruhrgebiet tätig, zunächst in Duisburg, dann in Essen. Von Anfang an haben wir uns mit Zulassungsverfahren für Fahrzeuge und Fahrzeugzubehör beschäftigt. Viele Hersteller vertrauen daher bei neuen Fahrzeugen und Komponenten auf unsere Kompetenz. Neben dem klassischen Verkehr spielen alternative Antriebe inzwischen eine wachsende Rolle, vor allem E-Mobilität und Wasserstoff. In Essen verfügen wir über hochspezialisierte, international beachtete Prüfeinrichtungen, zum Beispiel für Schadstoff-Emissionen, Bremsen oder Reifen.

Die Elektroniksysteme heutiger Fahrzeuge sind vernetzter und damit auch komplexer geworden. Wie haben sich die Anforderungen an die heutige Autogeneration für Sie als Prüfdienstleister verändert?

Das Umfeld wird immer internationaler, der Entwicklungszyklus von Fahrzeugen kürzer. Das erfordert schnelle Reaktionen. Das emissionsfreie, vernetzte und automatisierte Fahren rückt immer stärker in den Fokus. Dafür ist längst nicht mehr nur Ingenieurswissen nötig, sondern umfassendes Elektronik- und Software-Knowhow. Dieses bringen wir bei TÜV NORD in Essen zusammen.

Tesla HU TÜV NORD
Fotocredit: TÜV NORD GROUP

Die zunehmende Interaktion der Systemfunktionen birgt zugleich aber auch ein immer höheres Risiko für Cyberangriffe. Ganz direkt gefragt: Wie sicher sind unsere digitalen Fahrzeuge? Die Sorge vor Hackerangriffen oder fehlerhaften Anwendungen ist bei vielen Menschen groß.

Alle neuen Fahrzeuge werden heute auf Cybersecurity geprüft. Dies wird bereits im Entwicklungsprozess von Fahrzeugen berücksichtigt und ist eine Voraussetzung für die so genannte „Typgenehmigung“. Mit Blick auf die Datenmengen und Updates, die regelmäßig in Fahrzeuge eingespeist werden und Einfluss auf die Fahreigenschaften haben können, genügt es aber nicht mehr, dass der TÜV nur alle zwei Jahre bei der Hauptuntersuchung die Sicherheitssysteme prüft. Notwendig ist, Hackergriffe und fehlerhafte Funktionalitäten im Fahrbetrieb jederzeit mit modernster Technik bestmöglich auszuschließen. Dafür sind wir bei TÜV NORD aufgestellt. Dies muss jedoch die Politik entscheiden.

Wie ist die Industrie auf diese Gefahren vorbereitet und wie wirken Sie darauf ein, diese Risiken zu minimieren?

Die Industrie trifft viele Vorkehrungen zum Schutz von Menschen und Technologie. Als benannter technischer Dienst prüfen wir die Anforderungen der Regelwerke, führen aber auch eigene Tests durch. Wir simulieren Angriffe von außen und können somit die Resilienz von Fahrzeugen nahtlos prüfen. Die Erkenntnisse werden z. B. von den Fahrzeugproduzenten vielfach umgesetzt.

Das Thema Sicherheit und Vertrauen in die Fahrzeuge wird gerade auch in Bezug auf autonomes Fahren immer wichtiger. Eine zentrale Rolle spielt dabei Künstliche Intelligenz, die mittlerweile auch bei Ihnen in der Hauptuntersuchung eingesetzt wird. In Zusammenarbeit mit einem Startup haben Sie dazu eine KI-basierte Sprachsoftware entwickelt. Wie können wir uns dies in der täglichen Prüfsituation konkret vorstellen?

Wenn unsere Prüferinnen und Prüfer während der Hauptuntersuchung eine Abweichung entdecken, sprechen Sie dies über ihr Headset direkt ins Handy ein. Mittels Künstlicher Intelligenz wird die Spracheingabe gecheckt und dann direkt in den Prüfbericht übertragen. Dafür arbeiten wir mit dem Startup „voize“ zusammen. Auf der Digital X in Köln wurde TÜV NORD dafür gerade im Bereich „Zukunft der Arbeit“ mit einem Preis geehrt. Wir achten aber auch darauf, unsere Mitarbeitenden mitzunehmen und mit der für sie noch ungewohnten Technologie vertraut zu machen.

Inwieweit wird autonomes Fahren auf den Straßen des Ruhrgebiets in wenigen Jahren schon eine Rolle spielen? Welches Potenzial liegt für so einen Ballungsraum in der Technologie?

Im städtischen Individualverkehr wird Automatisiertes Fahren in den nächsten Jahren noch keine signifikante Rolle spielen. Das kurz- und mittelfristige Potenzial liegt im Ruhrgebiet in der Intensivierung und Individualisierung des Öffentlichen Nahverkehrs. Fortschritte erwarte ich auch bei „Mobility as a Service“, zum Beispiel für Lieferdienste oder Sammeltaxis. Automatisierte, emissionsfreie Fahrzeuge oder Roboter können Pakete außerhalb der Stoßzeiten zustellen und damit das Verkehrsgeschehen in unseren Städten entzerren.